Versprechen macht Schuld
Der Musikwissenschaftler und Autor Bruno Forment im Gespräch mit Dirigent René Jacobs über Mozarts Idomeneo
„Wer ist die schuldige Partei?“ Dreimal stellt sich das Volk – Il Popolo, mit Großbuchstaben – diese Frage im zweiten Akt von Mozarts Idomeneo, Rè di Creta (1781). In diesem Moment erhebt ein „großes Ungeheuer“ sein Haupt. Eine Wasserbombe explodiert über Kreta, das Mittelmeer schwillt zu einem Tsunami an, Blitze setzen Schiffe in Brand und eine Pandemie bricht aus. Die Menschen sind verzweifelt. Elf Hörner, gekrönt von einer kreischenden Piccoloflöte, erschüttern den Zuhörer mit dissonanten, verminderten Septimen- und None-Akkorden. Schon während der Proben, im Dezember 1780, war man in München von Mozarts akustischem Blitz entzückt. Mit dem Stolz eines Vaters und dem Ohr eines Kenners berichtete Vater Leopold, dass „der Chor im zweiten Akt während des Sturms so mächtig war, dass er selbst in der größten Sommerhitze jeden frösteln lassen würde.“ Der gleiche Sturm geißelt das Gewissen der Titelfigur, Idomeneo, Sohn des Deukalion, Enkel des Minos. Überwältigt vom Tumult seiner Kreter, wendet sich der König an Neptun: „Hier bin ich, barbarischer Gott! Der Schuldige!“ Wie Ludwig XVI. bereitet er sich 12 Jahre später darauf vor, enthauptet zu werden.
Das Libretto von Giovanni Battista Varesco beginnt jedoch mit einer positiven Note. Priams Tochter Ilia hat zwar Heimweh nach dem Troja der Vorkriegszeit, aber auf Kreta fehlt es ihr an nichts. Als echte Prinzessin zieht sie in eine Suite im Königspalast von Sidon ein. Außerdem gewährt Idomeneos gütiger Sohn Idamantes den trojanischen Kriegsgefangenen die Freiheit. „Lasst uns den Frieden genießen“, singen alle con brio.

Bald erklingen die ersten falschen Töne. Elektra, mitschuldig am Muttermord an Klytaimnestra (die ihrerseits Elektras Vater Agamemnon getötet hat), wird von Eifersucht zerfressen. Dass zwischen Idamantes und Ilia eine Romanze aufblüht, gefällt ihr alles andere als. Im ersten und dritten Akt sucht Elektras Wortschatz die unterirdischen Höhlen von Dantes Inferno auf. Auch musikalisch ist sie aufgewühlt. In ihrer ersten und letzten Arie erweist sich die Diva als ebenbürtig mit Medea, Armida und anderen Furien.
In einem Zug, ohne Pause, entfesselt Elektras Aufregung einen „echten“ Sturm. Idomeneos Vertrauter Arbaces überbringt eine unheilvolle Nachricht: Idomeneo und sein Gefolge sind in Gefahr, vom Meer verschlungen zu werden. Das Volk eilt an die Küste, wo Trümmer von Booten angeschwemmt worden sind. Anstelle eines friedlichen „Kumbaya“ ertönen Schreie der Verzweiflung: „Erbarmen, Götter, Erbarmen!“ Aus dem Off antwortet ein zweiter Chor: „Der Himmel, das Meer, der Wind lassen uns erstarren vor Schrecken.“ Nach dem Vorbild von Gluck verwebt Mozart das Tempête-Register der französischen Barockoper mit dem Sturm und Drang der Mannheimer Orchestermusik. Diese stilistische Verbindung wird noch lange nachwirken, man denke nur an die Sturmszenen in Wagners Der fliegende Holländer und Verdis Otello.
Als Idomeneo schließlich an der Küste Kretas angeschwemmt wird, trägt er mehr als nur Meerwasser mit sich. Obwohl das Meer ruhig und der Himmel blau ist, lastet eine bleierne Last auf seinen Schultern. Um seine eigene Haut zu retten, hat er Neptun ein „böses“, „wahnsinniges“, „schreckliches“ Versprechen gegeben. Wie der biblische Jephthah hat er geschworen, den ersten Menschen zu opfern, den er an Land trifft. Dieser Schwur hängt nun wie ein Damoklesschwert über seinem Kopf. Und wer läuft ahnungslos in sein Schicksal hinein? Idomeneos eigener Blutsohn, Idamantes. In einem brillanten Rezitativ – eine der schönsten Szenen der Oper, ja die Hauptszene, schreibt Leopold Mozart – keimt die Tragödie des Idomeneo auf. Die verhängnisvolle Begegnung zwischen Vater und Sohn beginnt in einem schlichten, vom Continuo begleiteten Seccorecit, entfaltet sich aber im Presto zu einem melodramatischen Accompagnato.
Doch für die Kreter scheint vorerst alles in Ordnung zu sein. Der Sturm hat sich gelegt, die Truppen gehen überglücklich an Land und preisen Neptun lautstark: Nettuno s’onori! Chorsolisten zücken ihr mythologisches Lexikon und stellen sich einen Neptunbrunnen vor, wie er in Versailles steht. Neben dem Meeresgott und seinen Pferden singen sie von Portunus auf seinem Delphin, Amphitrite, die über Dis siegt, Galatea mit Nereiden und Nymphen. Sie kennen sie alle, nicht wahr? Ein rauschendes Tanzfest rundet das Divertissement ab.
In den königlichen Gemächern vertraut Idomeneo im zweiten Akt Arbaces sein Geheimnis an: „Ich rühmte mich so vieler Heldentaten, doch der grausame Neptun lauerte mir auf.“ Der Vertraute tippt ihn diskret an: „Schlimm ist es, wenn ein König, der den Göttern unterworfen ist, sich das göttliche Recht anmaßt, Dinge zu fordern oder zu bestrafen, wenn er selbst weder ihrem Beispiel noch seinen Versprechen treu ist.“ Idomeneo ersinnt ein Pferd als Heilmittel. Er schickt Idamantes nach Griechenland, angeblich, um Elektra nach Hause zu begleiten. Ilia muss sich nicht sorgen. Idamantes erklärt ihr seine unsterbliche Liebe und Idomeneo verhält sich ihr gegenüber wie ein Vater. Idomeneo seinerseits bleibt der Spielball der inneren Stürme. Elektra hingegen ist ausnahmsweise einmal erfreut. Sie freut sich schon auf die Süßigkeitenreise mit Idamantes. Gemeinsam mit dem Chor verabschiedet sie sich von Kreta: „Das Meer ist ruhig, lasst uns gehen. Alles beruhigt uns.“ In einem Trio – das mit seinen pastoralen Akzenten, zwei Tempi und zwei Taktarten auch in Così fan tutte nicht fehl am Platz gewesen wäre – verabschieden sich Elektra, Idamantes und Idomeneo voneinander…

Gerade als Elektra und Idamantes sich auf den Weg machen wollen, kommt es zu der in der Einleitung angedeuteten Sturmszene. „Welch ein neues Grauen! Welch lärmendes Getümmel!“ Idomeneo gesteht seine Schuld, aber das kann niemanden beruhigen. Im Gegenteil, entsetzt über den Sturm und Idomeneos gotteslästerliche Worte, erschrickt das Volk: „Lasst uns fliehen, lasst uns fliehen vor diesem unerbittlichen Ungeheuer!“ Welches Ungeheuer? Der Sturm? Das sagenumwobene Ungeheuer auf dem Meer? Oder Idomeneo? Die Szene stellt den aufmerksamen Zuhörer vor drängende Fragen. Welchen Wert hat ein Schwur, wenn er auf Kosten unschuldiger Bürger geleistet wird? Kann ein Führer sein Volk wirklich beschützen, wenn er in seiner eigenen Angst gefangen ist?
Im langen dritten Akt erreicht der dramatische Konflikt seinen Höhepunkt, jedoch nicht ohne ein pastorales Vorspiel. Im königlichen Lustgarten bittet Ilia die „lieblichen Zephyrs“, ihre Liebe zu unterstützen. Eine Szene später gesellt sich Idamantes zu ihr und singt im Duett die Liebesmelodie la grand. Das Bett der Turteltauben scheint gemacht zu sein, doch Idomeneo und Elektra machen der Idylle sofort einen Strich durch die Rechnung. In einem intensiven Quartett – Mozarts Lieblingslied – verabschieden sich die vier Hauptfiguren von ihrem Seelenfrieden: „Kein Leid ist mehr möglich. So großer Kummer ist schlimmer als der Tod. Ein grausameres Schicksal und größeres Leid hat niemand je empfunden!“
Auch Arbaces ist ratlos. Ein wütender Mob hat sich vor dem Palast versammelt. Die Seuche breitet sich wie ein Lauffeuer aus. Neptuns Hohepriester setzt sie noch mehr unter Druck: „Schaut Euch um, Herr, und seht, welch schreckliches Gemetzel das grausame Ungeheuer in Eurem edlen Reich angerichtet hat. Sieh dir die Straßen an, die von Blut fließen. Auf Schritt und Tritt siehst du jemanden stöhnen und den letzten Seufzer eines von schwarzem Gift geschwollenen Körpers ausstoßen. … Von dir allein hängt die Lösung ab … Zögert ihr noch? Zum Tempel, Sire, zum Tempel! … Gebt Neptun, was ihm gebührt.“ Wie Ödipus gesteht Idomeneo sein Verbrechen und verrät die Identität des versprochenen Friedensopfers. Der Mob singt sofort eine Melodie tiefer: „O entsetzlicher Schwur!“ Die Musik (d-Moll, Alla-Breve-Takt, gedämpfte Trompeten und Hörner) erinnert an die reißerische Atmosphäre des Crucifixus in Mozarts Waisenhausmesse (KV 139).
Die Fortsetzung der Geschichte scheint unausweichlich. Obwohl Idamantes das Ungeheuer im Hintergrund besiegt, marschieren die Priester und der König zum Tempel. Idomeneo fällt auf die Knie und betet zu Neptun. Die Priester singen monotone Gesänge, die in plagalen Kadenzen gipfeln. Gekleidet in ein weißes Gewand und gekrönt mit einem Kranz, nicht aus Dornen, sondern aus Blumen, bietet sich Idamantes als das Lamm an, das die Sünden der Welt wegnimmt: „Die Natur soll sich ihrem Schöpfer beugen: Das ist der hohe Wille Jupiters. Erinnere dich an deine Pflicht!“ Im Banne seines Versprechens ergreift Idomeneo sein Schwert
Ilia unterbricht den Cliffhanger knapp: „Halt, Majestät, was tust du? … Hier ist meine Brust, ich bin das Opfer. … Die Götter sind keine Tyrannen. Ihr seid alle falsche Interpreten des göttlichen Willens. Der Himmel will die Feinde, nicht die Söhne, aus Griechenland vertreiben. … Ein freiwilliges Opfer ist für die Götter immer angenehmer.“ Auswechslungen in letzter Minute sind in Opferszenen keine Seltenheit, man denke nur an Ériphyle in Racines Iphigénie und Aulide. Dass Ilia selbst bereit ist, ihr Leben anstelle eines anderen zu opfern, macht sie jedoch zu einer proto-christlichen Märtyrerin.
Im Stil von Euripides erscheint ein deus ex machina, oder doch nicht? Man hört „großes Geschrei“. Die Statue des Neptun taumelt. Der Hohepriester steht in Ekstase vor dem Altar. Eine tiefe, bedrohliche unterirdische Stimme – einfach „Die Stimme“ (La Voce) – ertönt. Ungeachtet allen Rationalismus war Leopold Mozart von dieser Szene außerordentlich erregt. Ein solcher unterirdischer Klang, schrieb er seinem Sohn, könne ein „Meisterwerk der Harmonie“ werden, vorausgesetzt, „seine Stimme und seine Begleitung sind bewegend, erschreckend und außergewöhnlich“. Mozart junior nahm sich die Ratschläge und Anweisungen seines Vaters zu Herzen: „Du wirst wahrscheinlich tiefe Blasinstrumente nehmen … Wie wäre es, wenn nach einem kleinen unterirdischen Klang die Instrumente leise halten … dann ein Crescendo, das sich bis zum Schrecken steigert, und während des Decrescendos beginnt die Stimme zu singen?“ Er bat den Intendanten um drei Posaunen, aber die Nummer wurde so stark gekürzt, dass von der orakelhaften Phrase wenig übrig blieb. Moderne Aufführungen entschädigen für Mozarts Schnippelei.
Und was verkündet die Stimme? Darf Ilia den Platz des Prinzen einnehmen? Soll Idamantes noch geopfert werden? Oder soll Idomeneo das Schwert in seine eigene Brust stecken? Der Orakelspruch ist überraschend: „Die Liebe hat gesiegt. Der Himmel verzeiht Idomeneos schweren Fehler, aber nicht dem König. Es ziemt sich nicht für einen Monarchen, sein Versprechen zu brechen.“ Idamantes erhält sowohl die Krone als auch die Hand von Ilia. Elektra ist rasend vor Wut. Sie schwört, ihrem Bruder Orestes in die Unterwelt zu folgen, wo sie von Vipern und Schlangen empfangen wird. Idomeneo beugt sich gehorsam dem Willen des Himmels. Das Volk erhebt noch einen Hymnus, aber nicht auf Neptun: „Mögen Amor, Hymeneus und Juno zu den königlichen Verlobten hinabsteigen, und möge die Göttin der Ehe [Juno] Seelenfrieden in ihre Brust pflanzen!“
So schimmert Idomeneo, Rè di Creta mit universellen Themen durch: Schuld und Buße, Schicksal und freier Wille, Schwäche versus Tugend. Im Gegensatz zu ihrem Vorbild, Idoménée (1712) von André Campra und Antoine Danchet, endet die Oper jedoch mit einer leichten Note. Das war genau das Richtige für eine Karnevalsaufführung zu Ehren von Kurfürst Karl Theodor von Bayern. Auch von einer peinlichen Dreiecksbeziehung zwischen Idomeneus, Idamantes und Ilia ist, anders als in „Idoménée“, keine Rede. Ebenfalls bemerkenswert: Die heidnischen Götter halten sich zurück. Neptun zeigt allenfalls während des ersten Sturms sein zorniges Gesicht, das Ungeheuer im zweiten Akt ist wohl (auch) eine Illusion, das Orakel das Kunststück eines Scharlatans.

Wie die Zauberflöte kann Idomeneo als eine aufgeklärte Bildungsoper betrachtet werden: eine musikdramatische Allegorie, die zum Nachdenken anregt. Wie Tamino und Pamina unterziehen sich Idamantes und Ilia Prüfungen, um ihre fürstliche Tugend zu beweisen. Wie die Königin der Nacht kann auch Elektra ihre Rache nicht bekommen. Arbaces agiert als kluger Ratgeber, überlässt aber La Voce den Schluss. Letzterer verkörpert Sarastro: ein erhabenes Wesen, das Mozarts persönliche Ideale verkörpert.
Obwohl er zum Zeitpunkt der Generalprobe genau fünfundzwanzig Jahre alt war, hat Mozart mit Idomeneo seine eigene Bildung abgeschlossen. Er schuf eine meisterhafte Partitur, die ein unermessliches, enzyklopädisches Können beweist und uns Einblicke in seine eigene Weltanschauung gewährt. Diese ist dezidiert pazifistisch. „Mozarts Gottheit“, schrieb Charles Mazouer, “kann weder Neptun noch die Heiligkeit des Mythos sein. Als Christ und bald Freimaurer konnte Mozart nicht an einen rachsüchtigen, blutrünstigen Gott glauben. Stattdessen glaubte er an einen guten, großzügigen Gott, der die Menschen liebt und will, dass sie glücklich sind. Daher das unerwartete Eingreifen der Voce, die nicht von Opfern oder Rache, sondern von Liebe, Vergebung und Frieden spricht“.
Als Figur lernt Idomeneus eine wichtige Lektion. Im Gegensatz zu Agamemnon, der in der Iphigenie in Aulis seine Tochter unter dem Zwang einer zornigen Diana opfert, bringt der König von Kreta aus lauter Angst und Feigheit selbst ein Friedensangebot. Sein tödliches Versprechen setzt nicht nur das Leben seines Sohnes aufs Spiel, sondern bringt ganz Kreta ins Unglück. Seine Schuldgefühle infizieren alles und jeden. Sein persönlicher Schmerz ist untrennbar mit seinem politischen Status verbunden. Am Ende muss er sein königliches Gewand und sein Zepter ablegen und zusammen mit Neptun von seinem Sockel stürzen..
Die Autokraten sind gewarnt. Während auf der ganzen Welt Stürme toben, die Bevölkerung mit teuren Versprechungen in die Irre geführt wird, der Fanatismus um sich greift und Tausende von Kindern im Namen der Götter geopfert werden, verkündet Idomeneo die „Aufklärung“ in ihrem reinsten Sinne.
Bruno Forment im Gespräch mit René Jacobs, 28. November 2024
